12 Oktober 2022

Die Unschuldsvermutung in Rechtssachen gegen den Staat

Kategorie: Bibob-Verfahren

Fast jeder kennt den Grundsatz: „Ein Beschuldigter bzw. Angeklagter gilt so lange als unschuldig, bis das Gegenteil bewiesen ist.“ Das gilt auch in einem sogenannten Integritätsprüfung (Bibob-Verfahren) oder einem Genehmigungsverfahren. Das wird auch als Unschuldsvermutung bezeichnet (Artikel 6 Absatz 2 Europäische Menschenrechtskonvention). Dieser Blogbeitrag befasst sich damit, wie der Staat Angaben aus einem Strafverfahren oder einer Untersuchung in einem verwaltungsrechtlichen Verfahren nutzt. Das kann zu der Qualifizierung „schlechte Lebensweise (In Holländisch)“ führen, was  z. B. unter Verweisung auf eine strafrechtliche Untersuchung einen Entzug der Gaststättenkonzession bewirken kann, und zwar auch dann, wenn keine Verurteilung vorliegt.

Was versteht man unter der Unschuldsvermutung?

Die Formulierung der Unschuldsvermutung ist eigentlich etwas irreführend und mehrdeutig. Die Unschuldsvermutung ist nämlich kein Gebot, eine Person als unschuldig zu behandeln, sondern enthält ein Verbot, eine Person als schuldig zu behandeln. Ein Gebot, eine Person als unschuldig zu behandeln, würde nämlich fast jede Handlung zur Fahndung und Strafverfolgung unmöglich machen. Strafrechtlich gesehen ist das nicht wünschenswert. Die Unschuldsvermutung verbietet einem Gericht oder einer anderen staatlichen Stelle, eine Person als schuldig zu behandeln, bevor ihre Schuld rechtlich festgestellt worden ist. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) prüft in diesem Fall die verwendeten Formulierungen des:der zuständigen Beamt:in.

Die Unschuldsvermutung ist ein strafrechtlicher Rechtsgrundsatz, der ab dem Zeitpunkt greift, an dem das Strafverfahren (criminal charge) beginnt.  Selbst wenn also eine Untersuchung gegen eine verdächtige Person eingeleitet wird: Die Person muss als unschuldig gelten, bis ein Gericht das Gegenteil festgestellt hat. Laut dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) ist dies der Fall, wenn der Person offiziell mitgeteilt wurde, dass sie strafrechtlich verfolgt wird (z. B. durch einen Strafbefehl oder eine Vorladung der Staatsanwaltschaft) oder wenn „die Situation der Person erheblich beeinträchtigt ist“ (EGMR, 18. Februar 2010, Nr. 39660/02 (Aleksandr Zaichenko gegen Russland – In Holländisch)). Dies ist unter anderem der Fall, wenn eine Person von der Staatsanwaltschaft als Verdächtige:r verhört wird.

Unschuld auch Ausgangspunkt bei anderen Verfahren des Staates

Die Unschuldsvermutung gemäß Artikel 6 Absatz 2 EGMR kann auch in einem nicht strafrechtlichen Verfahren gelten, z. B. in einem verwaltungsrechtlichen Verfahren. Dann gilt allerdings, dass ein Zusammenhang zwischen dem verwaltungsrechtlichen Verfahren und dem (beendeten) Strafverfahren bestehen muss. Ein Zusammenhang liegt vor, wenn das Strafurteil analysiert wird, das Beweismaterial in den Akten erneut geprüft oder ausgewertet wird, die Teilnahme der betreffenden Person an einigen oder allen Ereignissen, die zur Beschuldigung geführt haben, beurteilt wird, oder wenn man sich zu den bestehenden Hinweisen für die mögliche Schuld der betreffenden Person äußert (EGMR 12. Juli 2013, Nr. 25424/09 (Allen gegen Vereinigtes Königreich – In Holländisch)).

Wenn beispielsweise aus dem Wortlaut in einem Beschluss eines Verwaltungsorgans (z. B. Bürgermeister oder Gemeindevorstand) oder in einem Urteil des Verwaltungsgerichts die strafrechtliche Haftung (die Schuld an einer Straftat) abgeleitet oder impliziert wird, verstößt dies gegen die Unschuldsvermutung. Das ist beispielsweise dann der Fall, wenn in einem Bibob-Verfahren (Verfahren zur Integritätsprüfung durch die öffentliche Verwaltung) angegeben wird, dass die betreffende Person Straftaten verübt hat, obwohl sie dafür nicht verurteilt wurde (siehe z. B. Abt. Verwaltungsrecht des niederländischen Staatsrates vom 11. Februar 2015, ECLI:NL:RVS:2015:331 – In Holländisch). Dagegen ist die Feststellung einer Tatsache oder die Äußerung von Verdachtsmomenten durchaus erlaubt, sofern kein Freispruch vorliegt. Bei einem Freispruch darf nicht einmal die Vermutung geäußert werden, dass die Person eine Straftat verübt haben soll („voicing of suspicions“). Die Unschuldsvermutung verhindert jedoch  nicht die Feststellung einer möglichen zivilrechtlichen (Artikel 6:162 niederländisches Bürgerliches Gesetzbuch – In Holländisch) oder verwaltungsrechtlichen Haftung. Im Verwaltungsrecht darf man zwar nicht von einer Schuld ausgehen, wenn keine unwiderrufliche Verurteilung vorliegt, aber man darf ein Verdachtsmoment äußern. Dadurch entstehen sowohl eine große Grauzone als auch ein schmaler Grat zwischen der Schuld einer Person und dem Verdacht, dass sie schuldig sei.

Beispiel einer Unschuldsvermutung

Ein gutes Beispiel ist eine Rechtssache beim niederländischen Zentralen Verwaltungsgerichtshof (CRvB 5. März 2020, ECLI:NL:CRVB:2020:641 – In Holländisch). In diesem Verfahren ging es um die Entlassung eines Militärangehörigen aus der niederländischen Militärpolizei („Koninklijke Marechaussee“) im Rahmen der Strafverfolgung aufgrund des Besitzes von Betäubungsmitteln. Die Entlassung von Militärangehörigen ist ein verwaltungsrechtlicher Beschluss und unterliegt somit dem Staatssekretär im Verteidigungsministerium.

Dieser Militärangehörige feierte zu Hause seinen Geburtstag und seine  Heimkehr nach einem Auslandseinsatz. Nach einigen Meldungen wegen Lärmbelästigung kam die Polizei und forderte den  Militärangehörigen auf, sich auszuweisen. Dieser zog ein Portemonnaie aus seiner Hosentasche und dabei fiel ein Pony Pack (Briefchen) mit 0,6 Gramm Kokain auf den Boden. Nachdem die Freundin des Militärangehörigen von diesem Vorfall erfahren hatte, erklärte sie, dass das Briefchen ihr gehören würde. Sie sagte im Anschluss aus, dass sie das Briefchen – ohne das Wissen des Militärangehörigen – in dessen Hosentasche gesteckt habe und  dass er nichts von ihrem Drogenkonsum gewusst hätte. Das Militärgericht hielt die Aussage der Freundin für glaubwürdig und sprach den Militärangehörigen vom Vorwurf des Drogenbesitzes frei, weil der Vorsatz für den Drogenbesitz fehlte. Mit einem blauen Auge davongekommen, könnte man sagen.

Inzwischen hatte der Staatssekretär entschieden, den Militärangehörigen aufgrund von Artikel 39, Absatz zwei, Eingangssatz und unter l der Allgemeinen Beamtenordnung für Militärangehörige (In Holländisch) zu entlassen. Der Staatssekretär war der Meinung, dass die Anwesenheit von Kokain ein Fehlverhalten darstellt, das gegen die Drogenrichtlinien des Verteidigungsministeriums verstößt. Das Verhalten des Militärangehörigen ist als schwerwiegendes   Fehlverhalten zu betrachten, weil es nicht den Anforderungen entspricht, die in Bezug auf Zuverlässigkeit, Integrität und Professionalität von Angehörigen bei der Militärpolizei erwartet werden dürfen.

Es stellt sich jedoch die Frage, wie sich diese Begründung zu dem oben angeführten Freispruch im Rahmen der Unschuldsvermutung verhält. Vor der Beantwortung dieser Frage muss aber zunächst geprüft werden, ob die Unschuldsvermutung in dem verwaltungsrechtlichen Verfahren überhaupt anwendbar ist. Der Zentrale Verwaltungsgerichtshof (Centrale Raad van Beroep) war dieser Ansicht, weil sich der Freispruch und das dem Militärangehörigen vorgeworfene Fehlverhalten auf dieselben Fakten bezogen. Das hat seine Richtigkeit: Dieselben Fakten und Umstände werden auch für die Entlassung angeführt, obwohl das Strafgericht diesbezüglich bereits ein Urteil gefällt hatte, und das lautete „nicht schuldig“.

Beschluss eines Staatsorgans und Verwendung von Angaben aus einem Strafverfahren

Feste Rechtsauffassung des EGMR ist zudem, dass in einem nachfolgenden verwaltungsrechtlichen Verfahren das Verhalten, von dem die betreffende Person freigesprochen wurde, aufgrund weniger strenger Beweisregeln dennoch für erwiesen erklärt werden kann. Selbstverständlich muss kritisch geprüft werden, ob das zulässig ist. Sollte die Bedingung für die Entlassung einzig und allein auf Straftaten nach dem Betäubungsmittelgesetz (nach dem der Besitz von Drogen strafbar ist) zurückzuführen sein, würde dies meiner Ansicht nach ohne Weiteres einen Verstoß gegen die Unschuldsvermutung darstellen. In diesem Fall wird dem Militärangehörigen jedoch ein militärisches Fehlverhalten vorgeworfen, bei dem kein Vorsatz hinsichtlich des Drogenbesitzes erforderlich ist. Ein Freispruch schließt die Entlassung somit nicht aus.

Aber auch in dieser Sache gilt: Man soll den Tag nicht vor dem Abend loben. Der Prozessbevollmächtigte des Staatssekretärs meinte auf Nachfrage bei der Verhandlung, dass eine Entlassung wegen Fehlverhaltens nicht in Frage käme, wenn man die Aussage der Freundin berücksichtigen würde. Es trifft zwar zu, dass die militärischen Drogenrichtlinien keinen Vorsatz beim Drogenbesitz erfordern, aber keine Entlassung wegen Fehlverhalten vorgenommen werden müsse, wenn der Militärangehörige faktisch nichts mit dem Vorhandensein der harten Drogen zu tun hatte und darüber nicht Bescheid wusste. Fazit: Der Militärangehörige braucht sich keinen neuen Arbeitsplatz zu suchen.

Prüfung der beim Beschluss verwendeten Angaben

Diese Rechtssache mit dem Militärangehörigen ist kein Einzelfall, denn u. a. bei Gastronomielizenzen, Baugenehmigungen, Immobilientransaktionen und Betriebsgenehmigungen beruft man sich in den Niederlanden oft auf das Bibob-Gesetz. Dann wird untersucht, ob ein:e Antragsteller:in oder Inhaber:in der Genehmigung mit Straftaten in Verbindung gebracht werden kann. Das entspricht also der Vorgehensweise beim Militär.

Bei der Ablehnung oder Aufhebung einer Genehmigung empfiehlt es sich den Wortlaut des Beschlusses eines Verwaltungsorgans genau zu prüfen, wenn dem Beschluss strafrechtliche Angaben zugrunde gelegt werden. Das kann zum Beispiel in einem Integritätsverfahren (Bibob-Verfahren) oder bei einer Aufhebung/Ablehnung einer Betriebsgenehmigung aufgrund einer schlechten Lebensweise der Fall sein.

Verwaltungsorgane und das Landelijk Bureau Bibob schlussfolgern oft, auch wenn keine unwiderrufliche Verurteilung vorliegt, dass eine Beziehung zu Straftaten besteht. Daher ist es ratsam, sich rechtzeitig über das Ausfüllen eines Bibob-Formulars und die daraus resultierende  Ablehnung oder Aufhebung beraten zu lassen. Auch wenn ein Verwaltungsorgan, zum Beispiel der Bürgermeister oder der Gemeindevorstand eine Genehmigung aufgrund einer nach dem Gesetz schlechten Lebensweise aufhebt oder ablehnt, muss sorgfältig beurteilt werden, ob dies zulässig ist, wenn keine unwiderrufliche Verurteilung vorliegt.